Griechenland - Literatur im Herbst
Alte Schmiede
10. bis 12. November 2006
Nikos Kazantzakis war über Jahrzehnte hinweg der Gradmesser des "Griechischen" in der Literatur und hinterließ das Erbe des Alexis Sorbas. Doch die griechische Gesellschaft und die dazugehörige Literaturszene haben sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren erheblich gewandelt. Das gottgleiche Dichterwort ist der redundanteren Redeform gewichen, der Autor - früher mühsam im Selbstverlag veröffentlicht und von fliegenden Händlern auf Büchertischen in der prallen Sonne angeboten - wurde zum Massen- und Medienprodukt. Die Entwicklung des Buchmarktes spiegelt die enormen gesellschaftlichen Veränderungen wider, die Griechenland seit dem Eintrit in die EU durchlaufen hat - vom armen Verwandten und Gastarbeiterlieferanten zum neureichen Bonvivant auf dem Balkan, der nun seinerseits Gastarbeiter bei sich aufnimmt. Zwei historische Traumata hatten die griechische Literatur wie kaum ein anderes Sujet geprägt: der in einer Flüchtlingskatastrophe endende kleinasiatische Feldzug 1922 und die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg sowie der nachfolgende Bürgerkrieg. Damals waren die griechischen Schriftsteller noch politische Rädelsführer, und gesellschaftspolitische Relevanz bildete einen unabdingbaren und eingeforderten Anteil des literarischen Textes. Doch nach dem Fall der Junta 1974 einerseits und nach dem Scheitern der linken Ideologien und Utopien in Europa andererseits haben sich auch in Griechenland die Fronten zwischen links und rechts aufgeweicht. Neue Themen standen auf der Tagesordnung: Sexualität und das Verhältnis der Geschlechter, das ironische Spiel mit literarischen Traditionen, die Hinwendung zu entfernteren historischen Epochen und eine Neuentdeckung und Verflechtung der griechischen und europäischen Geschichte, die Transzendierung des Griechischen in den europäischen Raum hinein.
Die in früheren Zeiten vielfach erzwungene Globalität einer Diaspora, deren Ausmaß und Reichweite nur von der jüdischen in den Schatten gestellt wird, war Faktoren wie politischer Vertreibung, wirtschaftlicher Not, Studienzwecken, der Seefahrt, aber auch kaufmännischer Begabung geschuldet. Heute zeugt die Weltläufigkeit der Griechen von einem gewandelten Selbstbewusstsein, von einer Abkehr vom Zeitalter der kulturellen Introvertiertheit.
Michaela Prinzinger